Rechtsanwalt Hoenig

Das Weblog des Strafverteidigers

20. Juni 2024

Waldrodung für das Selbstleseverfahren

Nicht nur in Wirtschaftsstrafsachen werden große Mengen an Papier verbraucht, auch das Anwaltsgericht verzichtet auf den zeitgemäßen Einsatz digitaler Technik. Und sorgt damit für reichlich Papierschnipsel für das Altpapierrecycling.

In Verfahren vor dem Schwurgericht, in denen es um „Straftaten am Menschen“ geht, sind Stichkanäle und Spermaspuren wichtige Beweismittel. Anders verhält es sich in Wirtschaftsstrafsachen. Hier spielen Urkunden die Hauptrolle.

Urkunden als Beweismittel

Die Beweismittel, auf die das Gericht sein Urteil stützen will, müssen in die Hauptverhandlung eingeführt werden. Bei Urkunden geschieht dies durch Verlesung, § 249 Abs. 1 StPO. Unproblematisch sind z.B. ein paar wenige Barzahlungsquittungen. Unangenehm wird es aber, wenn es sich um hunderte solcher Belege oder um die Lohnabrechnungen von 30 Mitarbeitern über einen Zeitraum von 5 Jahren handelt.

Deshalb hat der Gesetzgeber das so genannte Selbstleseverfahren erfunden und in § 249 Abs. 2 Satz 1 StPO geregelt, damit insbesondere umfangreiche Urkunden und Schriftstücke in der Hauptverhandlung nicht vollständig im Gerichtssaal verlesen werden müssen. Es genügt dann, wenn „Richter und Schöffen vom Wortlaut der Urkunde Kenntnis genommen haben und die übrigen Beteiligten hierzu Gelegenheit hatten“.

Selbst lesen statt vorlesen lassen

Die eigenständige Lektüre erfolgt dann – je nach persönlicher Vorliebe – beispielsweise im Arbeitszimmer, im Home-Office oder auf der Couch, jedenfalls nicht mehr im Gerichtssaal.

Diese Urkunden sind in der überwiegenden Zahl der Fälle Bestandteil der Gerichtsakte; sie sind entweder in der Hauptakte abgeheftet oder finden sich in Beiakten, Sonderheften und Beweismittelordnern. Diese gesamte Gerichtsakte hat allen Prozessbeteiligten – mit Ausnahme der Schöffen – zur Vorbereitung der Hauptverhandlung vorgelegen. Auch der Angeklagte wird sie über seinen Verteidiger erhalten haben.

Das Gericht ist jedoch verpflichtet, dafür zu sorgen und sicherzustellen, dass die im Selbstleseverfahren in die Hauptverhandlung einzuführenden Urkunden den Schöffen, Staatsanwälten, Verteidigern und Angeklagten zur Verfügung gestellt werden.

Selbstleseordner

Dazu setzt sich dann entweder der Vorsitzende oder einer der beisitzenden Richter hin und kopiert die Schriftstücke aus der Gerichtsakte in die Akte für das Selbstleseverfahren. Wenn die Richter Glück haben, wird ihnen diese Arbeit von einem Mitarbeiter der Geschäftsstelle abgenommen.

In ausgewachsenen Wirtschafts- oder Steuerstrafverfahren werden oft nicht nur wenige Stehordner mit diesen Kopien befüllt. Und zwar für jeden Schöffen, jeden Staatsanwalt, jeden Verteidiger und jeden Angeklagten jeweils ein kompletter Satz.

Wohlgemerkt: Es handelt sich dabei um Kopien der Dokumente, die bereits jeder der Beteiligten seit seiner Vorbereitung vor Prozessbeginn durch Akteneinsicht auf seinem Schreibtisch hat.

Kopien für den Reißwolf

Auf diesem Weg werden Unmengen von Papier verbraucht, die nach relativ kurzer Zeit und durch den Reißwolf zu hässlichem grauem Altpapier werden.

Die naheliegende Alternative, bereits die Ermittlungs- bzw. Gerichtsakte zu digitalisieren, um dann im Selbstleseverfahren sehr zügig digitale Kopien der Selbstlese-Urkunden auf einem Datenträge oder gar Server den Beteiligten zum (nochmaligen) Lesen zu geben, ist noch immer die seltene Ausnahme im Strafprozess.

Ausnahme: Ausdruck

Papierausdrucke für z.B. kurz vor der Pensionierung stehende Staatsanwälte oder Angeklagte, die (in Untersuchungshaft) nicht über die technischen Möglichkeiten verfügen, könnten auf ein Minimum beschränkt bleiben.

Nun könnte man optimistisch meinen, dass dieses Problem nur die Justizbehörden betrifft, während die Anwaltschaft weniger rückständig ist. Meine Erfahrung bei den Anwaltsgerichten der Republik ist jedoch eine andere. Auch dort stehen die Kollegen am Kopierer und stellen das Material zusammen, das dann zu mindestens 420 Partikeln pro DIN-A4-Blatt verarbeitet wird.

Ich bin mir sicher, dass ich das digitale Zeitalter in der Justiz während meiner aktiven Zeit als Strafverteidiger nicht mehr erleben werde. Bis dahin werden weiterhin ganze Wälder für Gerichts- und Selbstleseakten abgeholzt.

6 Kommentare

  • Das Ich sagt:

    420 Partikel pro DIN A4 Seite… Ist das auch schon wieder eine Vorschrift? Oder dient dies nur der Sicherheit.

  • Gerald sagt:

    „… kurz vor der Pensionierung stehende Staatsanwälte“

    Wunderbar, diese kleine Spitze! Danke!

  • @Das Ich:

    Die sieben Sicherheitsstufen beim Aktenvernichten sind in der Norm DIN 66399 definiert und beschreiben, wie klein die Partikel oder Streifen nach dem Vernichten sein müssen:

    1. **P-1**: Streifen mit einer maximalen Breite von 12 mm oder Partikel mit einer maximalen Fläche von 2000 mm².
    2. **P-2**: Streifen mit einer maximalen Breite von 6 mm oder Partikel mit einer maximalen Fläche von 800 mm².
    3. **P-3**: Partikel mit einer maximalen Fläche von 320 mm² und einer Breite von maximal 2 mm.
    4. **P-4**: Partikel mit einer maximalen Fläche von 160 mm² und einer Breite von maximal 6 mm.
    5. **P-5**: Partikel mit einer maximalen Fläche von 30 mm² und einer Breite von maximal 2 mm.
    6. **P-6**: Partikel mit einer maximalen Fläche von 10 mm² und einer Breite von maximal 1 mm.
    7. **P-7**: Partikel mit einer maximalen Fläche von 5 mm² und einer Breite von maximal 1 mm.

    Die Sicherheitsstufen reichen von Stufe 1 (geringste Sicherheit) bis zu Stufe 7 (höchste Sicherheit). Je höher die Sicherheitsstufe, desto kleiner und unlesbarer sind die Schnipsel.

    Um zu berechnen, in wie viele Partikel eine DIN-A4-Seite (mit einer Fläche von 62370 mm²) bei der Sicherheitsstufe P-4 geschnitten wird, teilt man die Fläche der Seite durch die maximale Fläche eines Partikels in der Sicherheitsstufe P-4. Bei P-4 beträgt die maximale Partikelgröße 160 mm². Daher ergibt sich:
    62370 geteilt durch 160 = 389,8125

    Eine DIN-A4-Seite wird bei Sicherheitsstufe P-4 in etwa 390 Partikel geschnitten. Die bekommt man mit handelsüblichen Mitteln nicht mehr zusammengebastelt. Gern schicke ich Ihnen mal ein paar zerschnippelte Seiten für einen Versuch …

  • Berti sagt:

    Verzichten nicht üblicherweise Verteidiger, Angeklagter und Staatsanwalt auf die Aushändigung von extra Ablichtungen fürs Selbstleseverfahren, wenn die Urkunden eh alle in der Akte sind?

    Das ist in überschaubaren Fällen sinnvoll, ja. Wenn es sich aber um Urkunden handelt, die über mehrere Dutzend Aktenbände verteilt sind, möchte ich meinen Mandanten nicht zumuten, mich fürs Raussuchen und Zusammenstellen der Kopien bezahlen zu müssen. crh

  • Kai sagt:

    @Das ich:

    Ich tippe darauf, dass die 420 Partikel im Zusammenhang mit einer bei Strafverteidigern gut bekannten Substanz steht, die vermutlich auch dringend benötigt wird, um so eine traurige Ressourcen-Verschwendung lächelnd ertragen zu können.

    https://de.wikipedia.org/wiki/420_(Cannabis-Kultur)

  • Gerd Oichnixohn sagt:

    Fairerweise und Anbetracht der technischen Kompetenz, die die Justizbehörden und Teile der Anwaltschaft immer wieder demonstrieren muss man aber auch sagen: Es ist extrem schwierig, sich von Russland oder China aus in einen Leitz-Ordner hinein zu hacken.