Rechtsanwalt Hoenig

Das Weblog des Strafverteidigers

16. Oktober 2023

Verteidiger als Helfer der Justiz

Wenn die Strafjustiz die Strafakte verbummelt hat, wird in der Regel der Verteidiger gebeten, bei der Rekonstruktion der Akteninhalte behilflich zu sein. Muss er das? Darf er das?

Die klassische Sitzposition des Verteidigers wird immer mal wieder erörtert. Die beiden nebeneinander stehenden Stühle zeigen sich in folgender Geschichte:

Die verloren gegangene Gerichtsakte

Dem Berliner Mandant wurde eine kleinere Straftat in Thüringen zur Last gelegt. Die dortige Staatsanwaltschaft beantragte den Erlaß eines Strafbefehls, den das Amtsgericht erlies und dem Mandanten zustellte. Er legte den Einspruch ein und beauftragte mich; ich beantragte und erhielt die Akteneinsicht.

Das Gericht setzte Monate später einen Termin zur Hauptverhandlung an. Zur Vorbereitung auf den bevorstehenden Hauptverhandlungstermin hatte ich (ergänzende) Akteneinsicht beantragt. Soweit der übliche Gang eines Strafbefehlsverfahrens.

Beim vereinbarten Besprechungstermin ein paar Tage vor dem Termin legte mir der Mandant einen Brief des Gerichts vor: Der Termin ist aufgehoben worden. Neuer Termin in zwei Monaten.

Ich wollte wissen, warum das Gericht nur den Mandanten, nicht aber mich umgeladen hat. Der Anruf auf der Geschäftsstelle des Gerichts ergab: Die Akte sei mir zusammen mit der Umladung bereits vor zwei Wochen übermittelt worden. Hier war aber weder die Akte noch die Umladung angekommen.

Beihilfe zur Aktenrekonstruktion?

Wie soll ich mich als Verteidiger meines Mandanten jetzt verhalten, wenn die Akte nicht mehr auftaucht (vielleicht weil der Paketzusteller sie irgendwo im Nirvana zugestellt hat)? Und das Gericht mich daher bittet, eine hier noch vorhandene Kopie der Akte zur Verfügung zu stellen, damit das gegen meinen Mandanten geführte Verfahren weiterbetrieben werden kann?

Nicht erst seit 2017, sondern schon im letzten Jahrhundert ist bzw. wurde diese Frage eindeutig geklärt. Der Verteidiger ist zwar einerseits Organ der Rechtspflege. Die aus dieser Stellung resulierenden Pflichten gehen aber nicht so weit, dass er die Interessen seines Mandanten, denen und dem er vordringlich verpflichtet ist, verraten muss.

Nur dann, wenn der Mandant damit einverstanden ist, darf der Verteidiger an der Rekonstruktion der Justizakten mitwirken. Ob der Mandant sein Einverständnis erklären sollte, hängt von den (überwiegend negativen oder überwiegend positiven) Folgen ab, die mit der Weitergabe der Aktenkopien verbunden sein werden.

Straf- und berufsrechtliche Konsequenzen

Setzt sich der Verteidiger über dieses grundsätzliche Verbot hinweg und der Mandant hat ihn deswegen gar nicht mehr lieb, muss er sogar damit rechnen, selbst einen Verteidiger beauftragen zu müssen; die Vorschriften der §§ 203, 356 StGB sollte er sich also besser vor einer solchen unerlaubten Hilfestellung einmal anschauen. Berufsrechtliche Konsequenzen für einen solchen Verrat können noch heftiger ausfallen als die strafrechtlichen.

Eine Ausnahme

Von diesem Grundsatz gibt es aber eine Ausnahme: Wenn der Verteidiger den Verlust der Originalakte zu vertreten hat, ist er verpflichtet – quasi auf dem Wege der Naturalrestitution – seine Kopien dem Gericht zur Verfügung zu stellen. Aber nur dann.

Folgen einer nicht wiederherstellbaren Akte

Was geschieht, wenn die Akte weder auffindbar ist, noch wiederhergestellt werden kann, hat das OLG Oldenburg (NStZ 2006, 119) entschieden:

Ist die Strafakte […] verloren gegangen und lassen sich Anklageschrift und Eröffnungsbeschluss nicht rekonstruieren, so ist das Verfahren wegen eines nicht auszuschließenden Prozesshindernisses […] einzustellen.

OLG Oldenburg, Beschluss vom 11. 8. 2005 – Ss 408/04 (I 83)

Diese Entscheidung muss der Mandant kennen, bevor er seinem Verteidiger die Weitergabe der Aktenkopien an die Strafjustiz gestattet. Der Verteidiger muss den Mandanten aber darauf hinweisen, dass eine Weigerung dann unvorteilhaft ist, wenn die Akte später dann doch irgendwann wieder auftaucht oder rekonstruiert werden kann.

Literaturhinweis:

Zur Vertiefung empfehle ich: Waldowski „Verteidiger als Helfer des Staatsanwalts?“, NStZ 1984, 448; Burhoff, Ermittlungsverfahren, Rdz. 531 m.w.N.

Anmerkung:
Diesen Blogbeitrag hatte ich bereits im Jahr 2017 geschrieben und auf unserer alten Website veröffentlicht. Die erneute Veröffentlichung erscheint in leicht gekürzter, ergänzter und veränderter Form.

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5 Kommentare

  • Daniel Lehmann sagt:

    „Der Verteidiger muss den Mandanten aber darauf hinweisen, dass eine Weigerung dann unvorteilhaft ist, wenn die Akte später dann doch irgendwann wieder auftaucht oder rekonstruiert werden kann.“

    Darf dem Beschuldigten daraus ein Nachteil entstehen?

    Auf diese Frage gibt es keine allgemeingültige Antwort. Im Falle einer Verurteilung wird das Gericht das Verhalten des Angeklagten bei der Strafmaßbestimmung nach Vorgabe des § 46 StGB „irgendwie“ berücksichtigen. Ob dies dann expressis verbis in den Urteilsgründen stehen wird, ist eher nicht zu erwarten. crh

  • Kai sagt:

    Sollten „Anklageschrift und Eröffnungsbeschluss“ nicht im Regelfall aus elektronischen Datenverarbeitungsanlagen (Dateiablagen/Backups/Dokumentenmanagement o.ä., selbst in Berlin) „rekonstruierbar“ sein?

  • Flo sagt:

    @kai, alleine schon das Umladung und Akte per Post und nicht beA verschickt wurden zeigt wie analog das Gericht noch unterwegs ist. Da dürfte es dann auch nix digitales geben aus dem man rekonstruieren kann.

  • WPR_bei_WBS sagt:

    @Kai

    Im Regelfall ja – im Fall der öffentlichen Verwaltung / Justiz wäre ich mir da seeeehr unsicher ;-).

  • Stefan sagt:

    Kann das Verfahren denn dann wieder geöffnet werden, wenn die Akte viel später wieder auftaucht? Was ist dann mit Verjährungsfristen?

    Das Verfahren wird nach dem Auffinden der Akte fortgeführt. Die Verjährungsfristen verlängern sich im üblichen Rahmen (Hemmung, Unterbrechung) bis zur absoluten Verjährung, der (vorübergehende) Verlust einer Ermittlungs- oder Gerichtsakte hat keinen unmittelbaren Einfluss auf den Ablauf einer Verjährung.
    In der Regel (mit vielen Ausnahmen) ist es für einen Beschuldigten aber vorteilhaft, wenn sich Verfahren verzögern, auch wenn sie später fortgeführt werden sollten. crh