Haftstrafe für Zappelwiderstand?
Wie man es verhindern kann, dass ein bisher nicht vorbestrafter Mensch monatelang in den Knast gesperrt wird, obwohl ihm am Ende maximal eine kleine Geldstrafe droht.
Jurist und Journalist Ronen Steinke kolumnierte in der Süddeutschen Zeitung über einen – wie er fand – rätselhaft klingenden Fall.
In der Kolumne nimmt Steinke dieses Geschehen vor dem Amtsgericht Tiergarten als Aufhänger für seine – wie ich finde – nur teilweise berechtigte Kritik an einer Gerichtspraxis, die nicht unbedingt außergewöhnlich ist. Die tatsächliche Einschränkung des Öffentlichkeitsgrundsatzes ist Alltag des Strafprozesses vor den Amtsgerichten.
In Berlin saß eine Ukrainerin in Untersuchungshaft, und zwar schon sechs Monate lang. Dabei lautete der Vorwurf der Staatsanwaltschaft […] nur: Sie habe sich eines Nachts, betrunken, krakeelend, als ein Polizist sie wegen eines Platzverweises abführte, „gegen die Laufrichtung gestemmt“. Es ist das, was in der Justiz „Zappelwiderstand“ genannt wird. Eine Bagatelltat, die denkbar mildeste Form eines Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte. Und dafür sechs Monate U-Haft?
Ronen Steinke in der SZ vom 24.08.2023
Ich möchte den Fall der Ukrainerin aus einem anderen Blickwinkel betrachten.
Folgen des Widerstands
Für den „Zappelwiderstand“ dürfte die Angeklagte am Ende maximal mit einem justiziellen Griff in das Kleingeldfach ihres Portemonnaies belangt worden sein. Warum also – das ist die berechtigte Frage des Juralisten – sitzt sie daher ein halbes Jahr im Knast?
Haftgrund
Die Routineantworten der Staatsanwälte und Strafrichter lauten: § 112 Abs. 1 und 2 Ziffer 2 StPO – Fluchtgefahr. Nun wird ein klar denkender Mensch nicht davon ausgehen, dass sich ein genauso klar denkender Mensch wegen einer zu befürchtenden Geldstrafe den Unbequemlichkeiten des Abtauchens in die Unterwelt aussetzt.
Dennoch ist es die Regel, dass selbst bei Kleinigkeiten die U-Haft angeordnet wird, wenn und weil der mutmaßliche Straftäter keinen festen Wohnsitz in Deutschland hat. Die (Berliner) Strafjustiz hat dann nämlich ein Problem: Wohin soll der Strafbefehl, die Anklage oder die Ladung zum Hauptverhandlungstermin geschickt werden, wenn der Adressat keine Adresse in der Nähe hat.
Ja, genau: „In der Nähe“! Es betrifft also nicht nur deutsche Obdachlose, sondern jeden Ausländer, auch Europäer, erst Recht jemanden, in dessen heimatlichen Briefkasten vielleicht gerade eine russische Iskander zugestellt wurde.
Zweck der Untersuchungshaft …
… ist die Sicherung des Strafverfahrens. Und ohne Briefkasten funktioniert das nun mal nicht problemlos. Deswegen schließt die Justiz diese Menschen ein. Und wenn der Strafrichter dann keinen zeitnahen freien Termin für die Hauptverhandlung hat, dauert so eine üble „Strafverfahrenssicherungsmaßnahme“ schon einmal ein paar Monate. Es trifft also auch hier einmal mehr wieder nur die Armen, lieber Ronen Steinke.
Verteidigung
Ich hatte als Verteidiger im Laufe der Jahre mehrere vergleichbare Mandate; von der auf einer ungesicherten Baustelle geklauten Kloschüssel über die „Beamtenbeleidigung“ bis hin zur Ohrfeige in einer Neuköllner Eckkneipe war alles dabei.
Gefangenenbefreiung
In den überwiegenden Fällen waren meine Mandanten aber nach ein paar Tagen wieder raus aus dem Knast. Und das geht so:
Step 1
Nach der Festnahme findet die Vorführung vor den Haftrichter statt, der – in Anwesenheit eines Verteidigers, § 141 Abs. 2 Ziff. 1 StPO – den Haftbefehl verkündet und die U-Haft anordnet.
Das ist dann auch der Zeitpunkt, in dem der Antrag auf mündlichen Haftprüfung nach § 117 StPO gestellt (und Akteneinsicht beantragt) werden kann und sollte. Dieser Haftprüfungstermin muss dann binnen zweier Wochen stattfinden, § 118 Abs. 5 StPO.
Step 2
In dieser Zeit sollte der Verteidiger Kontakt zum zuständigen Staatsanwalt aufnehmen, ihm die geständige Einlassung des Beschuldigten ankündigen und mit ihm vereinbaren, dass er umgehend die zwei dürren Seiten der Anklageschrift verfasst und diese schnellst möglich auf den Weg zum zuständigen Strafrichter bringt.
Step 3
Mit diesem Richter wird dann der kurzfristige Haftprüfungstermin vereinbart, zu dem dann auch – auf Initiative des Verteidigers – der oder ein (erfahrener) Staatsanwalt erscheint. In diesem frühzeitig (s.o. § 118 Abs. 5 StPO) stattfindenden Termin wird dem Angeschuldigten dann die Anklage zugestellt (§ 201 StPO).
Step 4
Der Angeschuldigte verzichtet auf alle Fristen und Formen, der Richter lässt die Anklage zu (§ 203 StPO), eröffnet und startet die Hauptverhandlung.
Step 5
Der Staatsanwalt verliest die Anklage, der Angeklagte räumt die ihm zur Last gelegte Tat ein und der Richter verkündet das Urteil (eine Verwarnung mit Strafvorbehalt, eine kleine Geldstrafe oder eine zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe).
Step 6
Der Verteidiger erklärt sich zum Zustellungsbevollmächtigten des Verurteilten. Der Haftbefehl wird aufgehoben und die Entlassung des Verurteilten aus der Untersuchungshaft angeordnet.
So kann’s gehen
Ein Verteidiger kann also in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken mit erfahrenen und einigermaßen gutwilligen Richtern und Staatsanwälten verhindern, dass es zu einer trotz ins Auge springenden Unverhältnismäßigkeit übermäßig lang andauernden Untersuchungshaft kommt. Wenn er weiß, wie man den trägen Justizapparat in die richtige Richtung bewegt.
Image (Alcatraz) by Dave Noonan from Pixabay
7 Kommentare
An vielen Stellen wird erwartet, dass man mögliche Schäden minimiert (wenn mein Zug ausfällt und ein Folge-Zug ist zeitlich völlig unproblematisch, kann ich schlecht ein teures Taxi für 500km quer durchs Land als Schaden geltend machen).
Wieso ist der Justizapparat hier nicht ebenfalls ähnlich angehalten? Ein halbes Jahr Gefängnis kostet ja nun nicht gerade wenig. Am Ende übersteigen diese Kosten doch die eigentliche Strafe um mehr als nur ein Vielfaches. Mal von den Konsequenzen auf den Inhaftierten abgesehen, der ja dann ebenfalls deutlich mehr Probleme hat, wenn er ein halbes Jahr nicht mehr auf Arbeit erscheinen kann, etc.
Dann müssten eben Verfahren priorisiert werden, bei denen ein solches Ungleichgewicht droht. Und dazu müssten vermutlich entsprechende Repressalien für die Beteiligten eingeführt werden, wenn ein solches Verfahren derart aus dem Ruder läuft.
Warum reicht kein RA der sich an Tag zwei zum Zustellungsbeauftragten erklärt? Soll er auf Basis Vorkasse machen und ob die Mandantschaft am Ende Termine erfährt oder Fristen versäumt ist ihr Problem, wenn ordentlich an den RA zugestellt wurde.
Müsste da der Gesetzgeber ran, dass für solche Fälle die Zustellbevollmächtigung nur rückgängig gemacht werden kann?
Danke, immer wieder interessant, was Sie schreiben.
Und wieder etwas gelernt.
Vielen Dank.
Kommt das nicht auch auf den entsprechenden Geschäftsverteilungsplan an, ob also der Ermittlungsrichter auch für das Hauptverfahren zuständig ist? Kann ja durchaus auseinanderfallen.
Nach Eingang der Anklage beim Gericht ist der Ermittlungsrichter draußen und der Richter der Hauptsache auch für das Haftverfahren zuständig, § 126 Abs. 2 StPO. Deswegen funktioniert der Übergang vom Haftprüfungsverfahren in die Hauptverhandlung auch erst ab Anklageerhebung.
BTW: Hier in Berlin ist es die Regel, dass Ermittlungsrichter und Erkenntnisrichter unschiedliche „Instanzen“ sind. crh
Und ich Naivling dachte immer, das Verhältnismäßigkeitsprinzip gelte auch für die U-Haft.
Vielen Dank. Ein sehr interessanter Beitrag.