Vorbefasste Vorurteile und eine Zigarettenpause
In Strafverfahren sollte das Gericht stets ergebnisoffen und unvoreingenommen in die Beweisaufnahme starten. Die Lebenswirklichkeit zeigt, dass dies eher die Ausnahme zu sein scheint.
In den verschiedenen Abschnitten eines Strafverfahrens entscheidet ein Gericht wiederholt über denselben Sachverhalt. Dass ist besonders in Haftsachen problematisch.
Wegen des Vorwurfs eines gewerbs- und bandenmäßigen Subventionsbetrugs im Zusammenhang mit Corona Hilfen des Bundes, findet ein Verfahren vor der Wirtschaftsstrafkammer eines Landgerichts statt. Insgesamt sollen Subventionen in Höhe von insgesamt rund 3 Millionen Euro unberechtigt erlangt worden sein, nachdem Anträge auf ca. 12,5 Millionen Euro gestellt worden sein sollten.
In diesem Verfahren wurde der von der Staatsanwaltschaft und ihren Ermittlern aufgeschriebene Sachverhalt mehrfach einer richterlichen Kontrolle unterzogen. Es stellt sich die Frage, inwieweit das Gericht, das am Ende das Urteil fällen soll, noch unabhängig entscheiden wird, wenn sich die Richter bereits mehrfach zuvor mit der Sache befasst und darüber entschieden haben.
Zulassungs- /Eröffnungsbeschluss und Urteil
Das einfache und klassische Beispiel für die „Mehrfachbefassung“ ist die gerichtliche Entscheidung über – erstens – den Antrag der Staatsanwaltschaft, die Anklage zur Hauptverhandlung zuzulassen, § 199 StPO, und – zweitens – die spätere Entscheidung im Urteil, § 264 StPO.
In der Anklageschrift ist der Sachverhalt (aus Sicht der Ermittlungsbehörde) zusammengefasst. Wenn das Gericht auf dieser Grundlage den Angeschuldigten der angeklagten Taten hinreichend verdächtig hält, § 199 StPO, wird die Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet, § 203 StPO.
Im Rahmen der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung überprüft dasselbe Gericht dann quasi die eigene Entscheidung noch einmal. Dabei ist es zwar an seine vorherige Entscheidung grundsätzlich nicht gebunden, § 264 Abs. 2 StPO. In den weitaus überwiegenden Fällen entspricht das Urteil aber im Wesentlichen dem Zulassungs- bzw. Eröffnungsbeschluss.
Diese Vorbefassung ist in der deutschen StPO systemimmanent und soll angeblich kein Grund zur Besorgnis einer Befangenheit des Gerichts liefern. Das sehen andere Prozessordnungen anders. Viele Strafverteidiger auch.
Update/Ergänzung:
Schon die Tatsache, dass das für die Tatsachenfeststellung und Hauptverhandlung zuständige Gericht vorab einen „Eröffnungsbeschluss“ (§ 203 StPO) erlässt, in dem es regelmäßig allein aufgrund der Aktenlage zu der Ansicht kommt, es sei „hinreichend wahrscheinlich“, dass die von der Anklage behaupteten Tatsachen stimmen und zu Verurteilungen führen, lässt sich nur mit viel gutem Willen und Außerachtlassen gesicherter psychologischer Erkenntnisse als Teil eines unvoreingenommenen, unbefangenen Prozesses verstehen.
Rechtsanwalt & VRiBGH a.d. Thomas Fischer in der LTO vom 22.06.2022
Haftsachen
Wenn der Angeklagte in Untersuchungshaft sitzt, erfolgen weitere Prüfungen des Sachverhalts durch das Gericht. Um jemanden schon vor seiner Verurteilung in Untersuchungshaft nehmen zu können, muss sich aus dem Sachverhalt (u.a.) ein dringender Tatverdacht ergeben, § 112 StPO.
Das hat als erstes der Haftrichter beim Amtsgericht geprüft. Im Zusammenhang mit dem Zulassungs- und Eröffnungsbeschluss folgt eine Prüfung desselben Sachverhalts durch das Erkenntnisgericht, also das Landgericht, wenn es sich wie hier um eine ausgewachsene Wirtschaftsstrafsache handelt.
Wenn nun seit der Inhaftierung sechs Monate vergangen sind, schaut sich auch das zuständige Oberlandesgericht (OLG) an, ob die Haft aufrechterhalten werden darf, § 121 StPO. Passen die Voraussetzungen im Übrigen, ordnet das OLG die Haftfortdauer an und bestätigt dabei erneut den dringenden Tatverdacht, der sich aus dem Sachverhalt ergeben soll.
An dieser Stelle des Verfahrens hat ein Gericht also bereits über den Haftbefehlsantrag der Staatsanwaltschaft entschieden und den dringenden Tatverdacht bestätigt. In dem Eröffnungsbeschluss bestätigt dann das für das Hauptverfahren zuständige Gericht den hinreichenden Tatverdacht auf der Grundlage der Anklage derselben Staatsanwaltschaft. Und dann kommt auch noch das OLG daher und erteilt seinen Segen zur Haftfortdauer, wenn die Verurteilungswahrscheinlichkeit aus Sicht der OLG-Richter sehr hoch ist.
Im vorliegenden Fall kommen alle gerichtlichen Prüfungen zum selben Ergebnis: Der dringende Tatverdacht liegt vor, der Angeklagte bleibt in Untersuchungshaft (weil im Übrigen auch die Haftgründe vorlägen).
Haftprüfung
Nun gibt es noch eine weitere Etappe auf dem landgerichtlichen Weg zwischen Eröffnung des Hauptverfahrens und Urteil: Die mündliche Haftprüfung, § 117 ff StPO.
Wenn der inhaftierte Angeklagte nach Anklageerhebung oder noch später (nach Zulassung der Anklage, s.o.) die mündliche Haftprüfung beantragt, entscheidet dasselbe Gericht, das bereits die Anklage zugelassen hat und später das Urteil sprechen wird, auch über die Frage des dringenden Tatverdachts im Rahmen dieser Haftprüfung, § 126 Abs. 2 StPO.
Ist vor diesem Hintergrund eine mündliche Haftprüfung also überhaupt noch sinnvoll?
Im konkreten Fall hatte die Verteidigung keine vollständige Akteneinsicht erhalten, bevor der Eröffnungsbeschluss erlassen wurde. Eine Stellungnahme zu den Tatvorwürfen war daher nicht möglich, wenn die Verteidigung nicht ins Blaue hinein erfolgen sollte.
Das Gericht hatte der Verteidigung keine Chance gelassen, ihren Standpunkt vor der Zulassung der Anklage vorzutragen; die Einsicht in noch fehlende essentielle Aktenteile wurde erst später ermöglicht.
Der Angeklagte hatte jedoch die noch nicht gestorbene Hoffnung, das Gericht in dem Haftprüfungsverfahren davon überzeugen zu können, dass die gegen ihn erhobenen Vorwürfe nicht zutreffen.
Diese Chance, war sie auch, wie die Verteidiger betonten, gering, sollte genutzt werden. In einer sehr umfangreichen Verteidigungsschrift trat die Verteidigung den Vorwürfen entgegen. Im rund anderthalbstündigen Haftprüfungstermin ergänzte der Angeklagte diesen Vortrag, lies sich weiter zur Sache ein und beantwortete frei alle Fragen des Gerichts und der Staatsanwaltschaft, soweit sie sich auf sein Verhalten bezogen.
Nach einem inhaltlich nicht überraschenden Schlusswort des zuständigen Staatsanwalts zogen sich die drei Richter der Strafkammer zur Beratung über die Anträge des Angeklagten zurück.
Die Entscheidung
Es hat fast noch nicht einmal eine Zigarettenlänge gedauert, dann war die Beratungspause beendet. Der Vorsitzende verteilte mehrere Ausfertigungen eines Haftbefehls, der an einigen wenigen Stellen neu gefasst wurde, und lehnte ausführlich begründet alle Anträge des Anklagten ab. Keine Aufhebung des Haftbefehls und auch keine Haftverschonung gegen Auflagen, keine Aufhebung der Beschränkungen für die Untersuchungshaft nach § 119 StPO. Nichts.
Allein der Zeitablauf machte deutlich erkennbar, dass die Entscheidung bereits vor der Beratungspause, das heißt: bereits vor Beginn der Haftprüfung, festgestanden haben wird. Die Neufassung des Haftbefehls war ebenfalls nicht möglich während der paar Minuten Unterbrechung – ob die Zeit überhaupt für den Ausdruck der mehrfachen Ausfertigungen ausgereicht hätte, erscheint schon zweifelhaft.
Die Enttäuschung
Die Ablehnung der Anträge war vor dem Hintergrund des Verfahrensablaufs nicht überraschend, sondern überwiegend wahrscheinlich. Die kleine Chance sollte dennoch genutzt werden.
Enttäuschend war jedoch, dass das Gericht sich noch nicht einmal die Mühe gemacht hat, wenigstens den Anschein zu setzen, sich ergebnisoffen mit den Argumenten und dem Vortrag des Angeklagten auseinander gesetzt zu haben. Ein am Telefon geäußerter Satz wie etwa …
„Ach, lieber Verteidiger, lass die Anträge doch stecken, die machen uns allen nur überflüssige Arbeit und Dein Mandant bleibt sowieso da, wo er ist.“
… wäre ehrlicher gewesen als diese in die Form einer mündlichen Haftprüfung gepresste Gerichts-Show.
Die Erwartung
Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen stellt sich nun die Frage, welchen Sinn die Durchführung der Hauptverhandlung mit einer komplexen Beweisaufnahme noch haben soll. Das Gericht hat bis Ende März 2023 terminiert „sowie ab April 2023 jeweils wöchentlich am Donnerstag“. Um dann nach den letzten Worten der Angeklagten sich – für eine Zigarettenlänge? – zur Beratung zurückzuziehen.
Ach, lieber Vorsitzender, spar Dir doch das umfangreiche Verfahren, das macht uns allen nur überflüssige Arbeit und unser Mandant bleibt sowieso da, wo er ist … für die nächsten neun bis zehn Jahre …??
Nein, so eine Replik auf das bisherige Verfahren wäre niemals eine Option, jedenfalls nicht, solange der Angeklagte von uns verteidigt ist.
„Wenn Dein letzter Tag Dich nicht als Sieger vorfindet, soll er Dich noch als Kämpfer treffen!“
Augustinus von Hippo (354 bis 430 n.Chr.).
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6 Kommentare
Gewiss, die formale Enttäuschung über die nicht ergebnisoffene Haftprüfung sei groß, ob sie auch ehrlich ist, bleibt offen, da bekanntlich kein Kriterium. Erlaubte Unmoral sticht erlaubte Unmoral, also bleibt der moralische Ansatz des Verdeitigers im Morast der allgemeinen Wetterlage stecken.
Hypothese: Das Tatgeschehen ist sehr offensichtlich, die Tatvorwürfe plausibel und hinreichend stichhaltig. Dagegen sind die Erkläuterungen des Verdächtigers zwar freundlichen offen, aber den Kern der Sache berühren sie nicht – was zu erwarten war. Für diesen Fall hat die Richterschaft vorgesorgt und da er genau so eintraf, postwendend die Kopien verteilt. Die Erschleichung von Coranahilfen ist halt kein Kavaliersdelikt. Dann schon lieber Cum-Ex…
Der Blog gefällt mir trotzdem 🙂
Vielen Dank trotzdem für den Kommentar. 😉 crh
Bitte gerne, und ich möchte Sie dringlichst ersuchen in der der 3. Zeile meines obigen Textes ein einziges Wort, das mit V beginnt und mit g endet, auszubessern, sonst wäre der gute Glaube an meine Redlichkeit futsch.
ps: „… als den guten Glauben an die Redlichkeit vernichtende Kriterien…“ :), was dermaßen drastisch hoffentlich auch die Kammer nicht bewertet; aber scharfe Polemik der Verteidigung macht hoffentlich eine gute aus.
Was wäre denn aus Ihrer Sicht die Lösung? Ich kenne mich ja mit den Strukturen im Justizwesen nicht wirklich aus, daher die Frage.
Sind Haftrichter und OLG nicht jeweils verschieden vom LG? Wenn also drei verschiedene Gerichte unabhängig voneinander zum selben Ergebnis kommen, sitze ich als dummer Laie da und frage mich, ob an der Beurteilung nicht vielleicht was dran sein könnte.
Im vorliegenden Fall scheint es wirklich nicht richtig gelaufen zu sein, aber der Blogpost liest sich mehr wie eine grundsätzliche Kritik am Verfahren. Und da ist dann die Frage: Wie könnte man es besser machen, wenn andere Gerichte offenbar nicht die Lösung sind?
Die Lösung wäre ein getrennter Untersuchungsrichter für das Vorverfahren, der diese Entscheidungen trifft (einschließlich des Eröffnungsbeschlusses) und dabei übrigens auch gleich noch Beweismittel aussortieren könnte, die einem Beweisverwertungsverbot unterliegen, und die daher das Tatgericht gar nicht zu Gesicht bekommen darf. Denn auch, daß ein Tatrichter sich einfach Beweismittel wegdenken können soll, die er zwar einmal ausgewertet hat, aber nicht verwerten darf, erscheint mir bisweilen kaum realistisch. Die Schweiz kennt den Untersuchungsrichter und fährt gut damit. Dort ist auch m.E. das Strafprozeßrecht insgesamt ehrlicher – man spart sich z.B. den Unterschriftsautomaten im Strafbefehlsverfahren und läßt die Staatsanwaltschaft gleich die Strafbefehle selbst erlassen.
Dass der Mandant, bei einem Tatvorwurf von 3 Millionen Euro, weiterhin in U-Haft sitzt, erscheint überhaupt nicht willkürlich. Es muss gerade nicht für das Gericht feststehen, dass er aufgrund des Tatvorwurfs flüchten wird, sondern nur, dass eine Gefahr dafür besteht. Diese Gefahr besteht evident bei der im Raum stehenden Summe. Hier könnte ein besonders schwerer Fall des Betrugs nach § 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 StGB vorliegen, die mit einer Höchststrafe von 10 Jahren bestraft wird. Allein die Tatsache, dass der Mandant Fragen des Gerichts und der StA „frei“ beantworten konnte, kann nicht automatisch zur Folge haben, dass die U-Haft nicht aufrechterhalten werden kann. Auch die Tatsache, dass der Tatvorwurf nur auf Indizien gestützt werden könne, macht die Arbeit der StA und des Gerichts nicht notwendigerweise schlechter und damit willkürlich
Bei mehreren Millionen Euro abgerechnet für Coronatests stellt sich sogleich die Frage nach der Plausibilität. Haben der/die Angeklagte(n) wirklich jeden Tag tausende von Menschen getestet? Oft reicht da schon der Blick auf die Örtlichkeit, um zu wissen, was (nicht) sein kann.