Strafverfolgungswahnsinn
Staatsanwälte sind gehalten, Straftaten aufzuklären und zu verfolgen. Das ist gut so. Gefährlich wird es, wenn der Strafverfolgungsauftrag in Strafverfolgungswahn ausartet.
Der Braunschweiger Strafverteidiger Werner Siebers berichtete am 22.01.2022 über eine Entscheidung des Thüringer Oberlandesgericht (OLG Jena, Beschluss vom 18.01.2022 – 1 Ws 487/21), die er erstritten hat.
Bekanntes Problem
Es ging um ein bekanntes Problem, mit dem jeder Strafverteidiger konfrontiert wird, wenn er nur lange genug „dabei“ ist:
Im Ermittlungsverfahren beantragt und erhält der Verteidiger Akteneinsicht bei der Staatsanwaltschaft. In der Akte befindet sich der gegen den Mandanten erlassene Haftbefehl – oder wie in dem Thüringer Fall auch nur der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Erlass eines Haftbefehls (bzw. der Entwurf des Antrags). Irgendjemand bei der Staatsanwaltschaft hat vergessen, den Zettel aus der Akte zu entfernen.
Der Verteidiger muss sich nun die Frage stellen:
Darf er seinen Mandanten über dessen (beabsichtigte oder bevorstehende) Verhaftung informieren? Die Antwort steht unbestritten seit gefühlten 100 Jahren fest: Ja, der Verteidiger darf, er soll, er muss sogar seinen Mandanten über diese Aktenteil informieren.
Warum ist das überhaupt ein Problem?
Ein Verteidiger sitzt in so einem Fall zwischen zwei Stühlen. Auf der einen Seite genießt er als Organ der Rechtspflege, dessen Teil er ist, das Vertrauen der Justiziellen; er ist verpflichtet, das System am Laufen zu halten. Andererseits ist der Verteidiger seinem Mandanten verpflichtet; er nimmt insoweit die Garantenstellung war, die ihm von Art. 6 Abs. 3 MRK übertragen wurde.
Bekannte Lösung
In diesem Spannungsverhältnis hat der Verteidiger sich grundsätzlich für die Interessen seines Mandanten einzusetzen und sich gegen das Interesse der Strafverfolgungsbehörde oder des Strafgerichts zu entscheiden.
Der Verteidiger ist […] in der Regel auch berechtigt und sogar verpflichtet, dem Beschuldigten zu Verteidigungszwecken mitzuteilen, was er aus den Akten erfahren hat. Im gleichen Umfang, wie er ihm den Akteninhalt mitteilen darf, ist er prozessual auch berechtigt, den Beschuldigten über das Verfahren zu unterrichten und ihm sogar Aktenauszüge und Abschriften aus den Akten auszuhändigen.
OLG Jena, a.a.O., mit weiteren Nachweisen
Der Staatsanwalt, der gegen den Verteidger, der den Haftbefehl(-sentwurf) seinem Mandanten zur Kenntnis gegeben hat, nun ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts einer versuchten Strafvereitelung (§§ 258 Abs. 1 und 4, 22, 23 StGB) einleitet, zeigt entweder eigene massive Kenntnislücken oder er ist schlicht böswillig.
Die Auffassung, dass es einem Verteidiger schlechthin verboten ist, seinen Mandanten über drohende Zwangsmaßnahmen zu informieren und ihm etwa auch darauf gerichtete aus den Akten ersichtliche Schritte mitzuteilen, findet im Gesetz aber keinen Anhalt.
OLG Jena, a.a.O.,
Therapievorschlag
Die Details in dem Erfurter Verfahren lassen für den Kundigen Schlüsse auf ein gestörtes Verhältnis des zuständigen Staatsanwalts zu einer engagierten Verteidigung und damit zu einem rechtstaatlichen Verfahren zu. Hier sollte dessen vorgesetzte Stelle den Beschluss zum Anlass nehmen, den Strafverfolger zu einer persönlichen Fortbildungsmaßnahme zu verpflichten.
Update
Im Burhoff Online Blog schreibt der – sonst sehr zurückhaltende – Kollege Detlef Burghoff deutlich, was er von dem Wahnsinn(igen) hält …
Es war die Dusseligkeit der StA, dass der Haftbefehlsentwurf der StA in der Akte geblieben ist, als man die der Kollegin übersandt hat. Anstatt sich dann verschämt in die Ecke zu stellen und lieber das Mäntelchen des Schweigens über den “Faux pas” zu decken, hat man sich offenbar gedacht: Angriff ist der beste Weg der Verteidigung, machen wir doch aus dem ganzen ein “Verteidigerausschlussverfahren”.
und fragt sich zu Recht:
… ob man bei GStA, der StA und dem AG nichts anderes zu tun, als solche Anträge zu schreiben.
Dem Schlusswort des erfahrenen ehemaligen Richters am OLG ist nichts hinzuzufügen.
5 Kommentare
Dem ist nichts hinzuzufügen außer dem Kauf einer Tüte erhitzten Maises, ob jetzt auch strafvereitelt wird durch Nichteinleitung eines Verfahrens wegen des Verdachtes der Verfolgung Unschuldiger bei StA, AG und GenStA.
„Hier sollte dessen vorgesetzte Stelle den Beschluss zum Anlass nehmen, den Strafverfolger zu einer persönlichen Fortbildungsmaßnahme zu verpflichten.“
Wie wahrscheinlich das wohl ist, wo doch die GStA (also die vorgesetzte Stelle der … vorgesetzten Stelle) das ganze Theater mitgemacht hat…
Laienhaft gefragt: Wenn unstrittig ist, dass der Verteidiger seinen Kenntnisstand dem Mandanten mitteilen darf und soll, hat sich dann nicht der Staatsanwalt (oder wer immer in der Staatsanwaltschaft für die Akte zuständig war) der versuchten Strafvereitelung (§§ 258 Abs. 1 und 4, 22, 23 StGB) schuldig gemacht?
Anders gefragt, sind Staatsanwälte von diesem Paragraphen explizit ausgenommen oder ist grobe Fahrlässigkeit hier straffrei?
@Blubb: Nö, aber der StA dürfte ja einfach nur vergessen haben den Zettel rauszunehmen. Dann wusste erhalt nicht das der da drin war, also war das nicht wissentlich und absichtlich schon mal gar nicht. 🙂
Erfreuliche Nachricht: das Verfahren ist nun eingestellt mangels Tatverdacht. Bleibt abzuwarten, ob die Staatsanwaltschaft nunmehr im Rahmen des verpflichtenden Amtsermittlungsgrundsatzes gegen die Strafverfolger Ermittlungsverfahren wegen der Verfolgung Unschuldiger einleitet, oder ob das „vergessen“ wird.