Den Tunnel fest im Blick
Wenn sich ein Richter bereits mit der Anklageerhebung auf die Verurteilung festgelegt hat, ist das Risiko groß, dass er auf dem Weg zum Urteil massive Fehler macht. In einem Verfahren vor dem Landgericht Rostock hat sich das Risiko realisiert.
Die Kriminalbeamten haben ordentlich aufgeräumt in der Rostocker Drogenszene. Die Jungs und Mädels aus dem An- und Verkaufsbusiness hatten das große und schnelle Geld im Blick, der im Übrigen aus naheliegenden Gründen reichlich vernebelt war. Deswegen hatten die Landeskriminalen auch keine größeren Schwierigkeiten, den Laden aufzumischen.
Verfahrensroutine
Es waren mehrere Verfahren, die anschließend auf dem Tisch des Vorsitzenden der 1. Großen Strafkammer landeten. Und er traf immer wieder einmal auf die selben Beteiligten, wenn auch in unterschiedlichen Konstallationen. Entsprechend routiniert hat der Vorsitzende die Sachen abgearbeitet.
Alte Bekannte
Auch unseren Mandanten kannte der Richter bereits aus den anderen Verfahren. Dort hatten der Vorsitzende und seine Beisitzer mehrere Angeklagte verurteilt, weil sie jeweils eine mittlere Menge Kokain gekauft hatten. Als Verkäufer hatten sie jeweils unseren Mandanten angegeben. Sie haben den Verräterrabatt nach § 31 BtmG mitgenommen und den Ermittlern Aufklärungshilfe geleistet.
Die erste Anklage
Nun gab es einen Staatsanwalt, der – anders als der Richter – die Szene nicht so durchdrungen hatte. Er verlies sich auf die Angaben der bereits verurteilten Käufer, die Schlussberichte der Polizei und entwickelte daraus die Anklageschrift.
Der korrigierende Vorsitzende
In dieser Anklageschrift waren angeblich ein paar Fehler enthalten, die der szenekundige Richter meinte entdeckt zu haben. Entsprechende Korrekturen arbeitete der Vorsitzende in den Eröffnungsbeschluss ein.
Bei Lichte betrachtet hat der Richter die Anklage dabei inhaltlich völlig auf den Kopf gestellt. Er hat die Taten komplett anders zusammenfasst und seine sonstigen Insiderkenntnisse mit einfließen lassen. In dem Eröffnungsbeschluss hieß es dann:
Es folgten nun in epischen Ausführungen drei zusammengefasste Taten, die im Grunde fast nur noch eine entfernte Ähnlichkeit mit dem hatten, was der Staatsanwalt ursprünglich aufgeschrieben hatte.
Die zweite Anklage
Ich vermute, diese Umarbeitung der Anklage im Eröffnungsbeschluss war dem Staatsanwalt unangenehm. Deswegen hat er das Ganze noch einmal umformuliert und dabei (nur) größtenteils das richterliche Update übernommen, aber dann doch noch die eine oder andere Änderung vorgenommen. Alles zusammen ergab dann eine völlig neue Anklageschrift:
Diese neue Anklageschrift hat der Staatsanwalt auf Aufforderung des Vorsitzende dann in der Hauptverhandlung auch verlesen.
Zwei Anklagen und nur ein Beschluss
Es gibt also hier zwei unterschiedliche Anklageschriften und nur einen Eröffnungsbeschluss. Und der bezieht sich auf die erste, nicht verlesene Anklage vom 02.04.2020.
Die neue, überarbeitete Version vom 08.06.2020, auf dessen Grundlage der Vorsitzende das Verfahren führte, unterschied sich erheblich von der ersten Version. Die stimmte aber auch mit dem Eröffnungsbeschluss nicht überein. (Für die Kundigen: § 207 III StPO (-))
Die verlesene Anklage war nicht zugelassen, das Verfahren insoweit nicht eröffnet.
Verurteilungskurs durch den Tunnel
Das war nicht der einzige Bock, den dieser Vorsitzende im Laufe dieses Verfahren geschossen hat. Psychologisch lassen sich solche Patzer recht einfach mit einem richterlichen Tunnelblick erklären: Völlig egal, wie es läuft; am Ende des Tunnels steht die Verurteilung.
Der BGH hat’s gerichtet
Der Vorsitzende hat den Angeklagten erwartungsgemäß verurteilt. Die Verteidigung hat das Urteil – ebenfalls wie zu erwarten war – mit der Revision angegriffen.
Bild von Paulina Kupis auf Pixabay
6 Kommentare
Richter Lex? Kannst’e nicht erfinden :).
Noch was anderes: Wie verträgt es sich eigentlich mit dem Beschleunigungsgrundsatz bei Haftsachen, dass das Gericht acht Wochen braucht, um sich mal die Anklageschrift anzuschauen?
„Kannst`e“ tut beim Lesen weh.
@WPR: Dass der Eröffnungsbeschluss vom 27.5. datiert heißt nicht, dass man sich die Anklage in der Zeit seit Eingang nicht angeschaut hat
Nach dem, was Herr Hoenig schildert, hat man sie offensichtlich schon angeschaut und dann eben die kuriosen Korrekturen angebracht.
A propos „kannste Dir nicht ausdenken“: Es gab oder gibt übrigens auch einen Rechtsanwalt Prozesky
@ Schneidermeister
Klar, das war vielleicht eine etwas flapsige Formulierung. Nichtsdestotrotz hat es acht Wochen gebraucht, bis das Gericht den Eröffnungsbeschluss erlassen hat. In einer (offenbar) Haftsache.
@Arnooo
Habe ich ja auch nicht geschrieben 😉
Was ist nun der Grund?