Rechtsanwalt Hoenig

Das Weblog des Strafverteidigers

9. Februar 2022

Den Tunnel fest im Blick

Wenn sich ein Richter bereits mit der Anklageerhebung auf die Verurteilung festgelegt hat, ist das Risiko groß, dass er auf dem Weg zum Urteil massive Fehler macht. In einem Verfahren vor dem Landgericht Rostock hat sich das Risiko realisiert.

Die Kriminalbeamten haben ordentlich aufgeräumt in der Rostocker Drogenszene. Die Jungs und Mädels aus dem An- und Verkaufsbusiness hatten das große und schnelle Geld im Blick, der im Übrigen aus naheliegenden Gründen reichlich vernebelt war. Deswegen hatten die Landeskriminalen auch keine größeren Schwierigkeiten, den Laden aufzumischen.

Verfahrensroutine

Es waren mehrere Verfahren, die anschließend auf dem Tisch des Vorsitzenden der 1. Großen Strafkammer landeten. Und er traf immer wieder einmal auf die selben Beteiligten, wenn auch in unterschiedlichen Konstallationen. Entsprechend routiniert hat der Vorsitzende die Sachen abgearbeitet.

Alte Bekannte

Auch unseren Mandanten kannte der Richter bereits aus den anderen Verfahren. Dort hatten der Vorsitzende und seine Beisitzer mehrere Angeklagte verurteilt, weil sie jeweils eine mittlere Menge Kokain gekauft hatten. Als Verkäufer hatten sie jeweils unseren Mandanten angegeben. Sie haben den Verräterrabatt nach § 31 BtmG mitgenommen und den Ermittlern Aufklärungshilfe geleistet.

Die erste Anklage

Nun gab es einen Staatsanwalt, der – anders als der Richter – die Szene nicht so durchdrungen hatte. Er verlies sich auf die Angaben der bereits verurteilten Käufer, die Schlussberichte der Polizei und entwickelte daraus die Anklageschrift.

Der korrigierende Vorsitzende

In dieser Anklageschrift waren angeblich ein paar Fehler enthalten, die der szenekundige Richter meinte entdeckt zu haben. Entsprechende Korrekturen arbeitete der Vorsitzende in den Eröffnungsbeschluss ein.

Bei Lichte betrachtet hat der Richter die Anklage dabei inhaltlich völlig auf den Kopf gestellt. Er hat die Taten komplett anders zusammenfasst und seine sonstigen Insiderkenntnisse mit einfließen lassen. In dem Eröffnungsbeschluss hieß es dann:

Es folgten nun in epischen Ausführungen drei zusammengefasste Taten, die im Grunde fast nur noch eine entfernte Ähnlichkeit mit dem hatten, was der Staatsanwalt ursprünglich aufgeschrieben hatte.

Die zweite Anklage

Ich vermute, diese Umarbeitung der Anklage im Eröffnungsbeschluss war dem Staatsanwalt unangenehm. Deswegen hat er das Ganze noch einmal umformuliert und dabei (nur) größtenteils das richterliche Update übernommen, aber dann doch noch die eine oder andere Änderung vorgenommen. Alles zusammen ergab dann eine völlig neue Anklageschrift:

Diese neue Anklageschrift hat der Staatsanwalt auf Aufforderung des Vorsitzende dann in der Hauptverhandlung auch verlesen.

Zwei Anklagen und nur ein Beschluss

Es gibt also hier zwei unterschiedliche Anklageschriften und nur einen Eröffnungsbeschluss. Und der bezieht sich auf die erste, nicht verlesene Anklage vom 02.04.2020.

Die neue, überarbeitete Version vom 08.06.2020, auf dessen Grundlage der Vorsitzende das Verfahren führte, unterschied sich erheblich von der ersten Version. Die stimmte aber auch mit dem Eröffnungsbeschluss nicht überein. (Für die Kundigen: § 207 III StPO (-))

Die verlesene Anklage war nicht zugelassen, das Verfahren insoweit nicht eröffnet.

Verurteilungskurs durch den Tunnel

Das war nicht der einzige Bock, den dieser Vorsitzende im Laufe dieses Verfahren geschossen hat. Psychologisch lassen sich solche Patzer recht einfach mit einem richterlichen Tunnelblick erklären: Völlig egal, wie es läuft; am Ende des Tunnels steht die Verurteilung.

Der BGH hat’s gerichtet

Der Vorsitzende hat den Angeklagten erwartungsgemäß verurteilt. Die Verteidigung hat das Urteil – ebenfalls wie zu erwarten war – mit der Revision angegriffen.

Wie hat der BGH über die Revision der Verteidigung entschieden?

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Bild von Paulina Kupis auf Pixabay

6 Kommentare

  • WPR_bei_WBS sagt:

    Richter Lex? Kannst’e nicht erfinden :).

  • WPR_bei_WBS sagt:

    Noch was anderes: Wie verträgt es sich eigentlich mit dem Beschleunigungsgrundsatz bei Haftsachen, dass das Gericht acht Wochen braucht, um sich mal die Anklageschrift anzuschauen?

  • Arnooo sagt:

    „Kannst`e“ tut beim Lesen weh.

  • schneidermeister sagt:

    @WPR: Dass der Eröffnungsbeschluss vom 27.5. datiert heißt nicht, dass man sich die Anklage in der Zeit seit Eingang nicht angeschaut hat
    Nach dem, was Herr Hoenig schildert, hat man sie offensichtlich schon angeschaut und dann eben die kuriosen Korrekturen angebracht.

    A propos „kannste Dir nicht ausdenken“: Es gab oder gibt übrigens auch einen Rechtsanwalt Prozesky

  • WPR_bei_WBS sagt:

    @ Schneidermeister

    Klar, das war vielleicht eine etwas flapsige Formulierung. Nichtsdestotrotz hat es acht Wochen gebraucht, bis das Gericht den Eröffnungsbeschluss erlassen hat. In einer (offenbar) Haftsache.

    @Arnooo
    Habe ich ja auch nicht geschrieben 😉

  • SCS sagt:

    Was ist nun der Grund?