Unkontrollierte Verfolgung
Der Richtervorbehalt ist eigentlich ein unverzichtbares Korrektiv im rechtsstaatlichen Verfahren. In der Praxis wird jedoch mehr als oft darauf verzichtet. Ein klassisches Beispiel für die fehlende richterliche Kontrolle ist das Strafbefehlsverfahren.
Die Steuerfahndung warf dem Mandanten vor, bei der Abgabe seiner Steuererklärungen nicht alle seine Einkünfte aus selbstständiger Arbeit angegeben zu haben. Insgesamt sollen es 75.000 Euro gewesen sein, die sein Steuerberater nicht in die Formulare eingetragen hat.
Der Sache liegt ein außerordentlich komplexer Sachverhalt zugrunde. Wie sehr oft im Steuerrecht stellte sich auch hier die Frage, wie das Ganze zu beurteilen ist. Die Verteidigung hatte andere Antworten als die Steuerfahndung.
Strafbefehl statt Anklage
Immerhin ist es gelungen, mit vielen Argumenten in nicht wenigen Verteidigungsschriften und Gesprächen eine Anklageerhebung zu verhindern. Die BuStra (so heißt das Finanzamt für Fahndung und Strafsachen Berlin – Bußgeld- und Strafsachenstelle – richtig) hat den Erlass eines Strafbefehls beantragt.
Dieser Antrag landete auf dem Tisch der zuständigen Richterin, damit sie diesen kontrolliere. Nun ist es nicht so, dass die BuStra schreibt „Wir beantragen den Erlass …“ und „Zur Begründung führen wir aus …„, und das Gericht entscheidet in seiner unendlichen Weisheit anschließend über den Antrag.
Aktenzeichen, Telefonnummer, Datum
Sondern der Strafbefehl wird von dem Steuerfahnder schon vollständig fertig geschrieben. Das Gericht muss jetzt nur noch oben das Aktenzeichen, die Telefonnummer und das Erlassdatum ergänzen.
Und ganz unten, auf der letzten Seite unterschreiben die Richterin und der Mitarbeiter der Geschäftsstelle.
22 Minuten
Laut einer (schon etwas angestaubten) Veröffentlichung des Deutschen Richterbunds (pdf, Seite 6) stehen dem Strafrichter gemäß PEBB§Y (Personalbedarfsberechnungssystem) für den Erlass eines Strafbefehls ganze 22 Minuten zur Verfügung.
Innerhalb dieser Zeit hat ein durchschnittlicher Richter die Akte der Steuerfahndung noch nicht einmal ansatzweise gelesen, geschweige denn durchgearbeitet und deren Inhalte nachvollzogen.
Einem Strafrichter wird täglich nicht nur eine solche Akte auf seinen Tisch gelegt. Deswegen wird er froh sein, wenn er sich auf die Kompetenz und die Rechtschaffenheit der Anklagebehörde verlassen kann (und muss).
Eine Alternative hat er ja de facto auch nicht. Deswegen nimmt er das bis ins Detail ausformulierte Angebot der Strafverfolger dankend entgegen, lässt seine Geschäftsstelle handschriftlich(!) die wenigen fehlenden Daten ergänzen und unterschreibt unten links. Fertig.
5 Minuten
Dafür braucht er keine fünf Minuten. Die gesparte Zeit kann er dann für die anderen zig Durchsuchungsbeschlüsse, Haftbefehle, Arrestbeschlüsse, Eröffnungsbeschlüsse, Hauptverhandlungstermine … etc. investieren, für die er ebenfalls viel zu wenig Zeit hat, um sie gewissenhaft bearbeiten zu können.
So funktioniert die richterliche Kontrolle in der Praxis (nicht). Ob der ermittelte Sachverhalt und anschließend die strafrechtliche Bewertung des Steuerfahnders, der den Strafbefehl ausformuliert hat, korrekt ist, kann der Richter in der Kürze der ihm zur Verfügung stehenden Zeit nicht, auch nicht nur ein bisschen, sondern überhaupt nicht kontrollieren.
Der Strafbefehl wird dem Angeklagten zugestellt, zusammen mit einer knappen Rechtsmittelbelehrung und mit der Ankündigung, dass demnächst eine Kostenrechnung in fünfstelliger Höhe kommen wird.
Mir geht es hier nicht um den Richter in seinem bedauernswerten Job. Das ist nicht meine Aufgabe, darum möge sich das Richterkollegium selbst kümmern.
Rechtsstaat auf der Basis der Gewaltenteilung
Für einen Verteidiger ist der Anspruch eines Bürgers auf ein rechtsstaatliches Verfahren entscheidend. Denn die richterliche Kontrolle ist unverzichtbarer Bestandteil der Gewaltenteilung, der Basis unseres Rechtsstaats.
Dieser de facto von der Steuerfahndung erlassene Strafbefehl hat mit dem in Art. 20 GG verankerten Verfassungsprinzip nur eine ganz oberflächliche Ähnlichkeit. Die objektiv fehlende Kontrollmöglichkeit ist Bestandteil dieses formularmäßig geführten Verfahrens.
Fiktion
Der Mandant hat Einspruch gegen den Strafbefehl eingelegt und wir bereiten nun eine ausführliche Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung vor. Dafür werden dem Strafrichter durch PEBB§Y ganze 300 Minuten zugebilligt. Diese Zeit wird der Richter allein schon brauchen, um die Akte (das erste Mal überhaupt!) zu lesen und die Verhandlung vorzubereiten.
Der Richtervorbehalt im Strafbefehlsverfahren ist eine wunderschöne Fiktion, mehr aber nicht.
13 Kommentare
Wo ist denn nun der Unterschied oder Vorteil, wenn es doch einen Einspruch gibt, und man sich letzendlich doch vor Gericht in einer öffentlichen Verhandlung wiederfindet?
@Daniel
Habe ich mich auch erst spontan gefragt. Meine (allgemeinen) Überlegungen:
– zu dem Zeitpunkt der Verhinderung der Anklageerhebung war das ja erstmal was gutes. Ist ja nicht zwingend, dass dann ein Strafbefehl kommt (vermutlich ist statistisch gesehen eher das Gegenteil der Fall)
– auch wenn damit rechnet, dass evtl. noch „etwas nachkommt“ , muss es ja nicht das jetzige Ergebnis sein. Vielleicht wäre man mit einem Bußgeld einverstanden, oder einem Strafbefehl in anderer Form (bzgl. der Vorgeworfenen Taten und/oder der Strafhöhe)
– selbst wenn man weiss, dass ein Strafbefehl in der jetzigen Form dabei rauskommt bzw. in der Kommunikation mit der Staatsanwaltschaft (bzw. dem Finanzamt) genau darauf hinarbeitet, bringt einem das (bei einem Einspruch) eine ganze Menge – der Strafbefehl fungiert dann nämlich als das, was in einem „normalen“ Verfahren die zugelassene Anklageschrift ist. Man hat also u. U. schon mal eine gewisse Menge an „Munition“ der Anklage / Risiko für den Mandanten rausgenommen
– und last but not least, auch wenn man mit dem grundsätzlichen Strafbefehl einverstanden ist, kann man den Einspruch immer noch auf die Strafhöhe beschränken und auf besseres hoffen (im Fall des Strafbefehls sogar ohne, dass die Anklage sowas wie ein Pendant zur Einberufung hat).
Was davon hier zutrifft: Keine Ahnung. Müsste ich spekulieren, würde ich aufgrund CRHs Formulierung auf meinen ersten Punkt tippen.
Im Prinzip macht sich ein Richter nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv wegen Rechtsbeugung strafbar, wenn er so etwas absegnet, gerade auch dann, wenn es nur deshalb ist, weil ihm zu wenig Zeit zur Verfügung steht.
Denn als Richter ist er an das Gesetz gebunden und wissentlich mögliche tiefgreifende rechtsverletzende Grundrechtseingriffe anzuordnen, steht dazu diametral im Widerspruch. Bedingter Vorsatz reicht für eine Rechtsbeugung m. W. aus.
Nicht bereits jede unrichtige Rechtsanwendung, die zu einer nicht mehr vertretbaren Entscheidung führt, erfüllt den *objektiven* Tatbestand des § 339 StGB. Der erforderliche Rechtsbruch muss vielmehr die Qualität eines elementaren Verstoßes gegen die Rechtspflege darstellen, bei der sich der Richter bewusst und in schwerwiegender Weise von Recht und Gesetz entfernt. Das ist hier (und in vergleichbaren Fällen einer Umgehung des Erfordernisses der richterliche Kontrolle) nicht gegeben. Auf das Problem der Vorsatzform kommt es dann schon gar nicht mehr an. crh
@ Daniel: Ein Unterschied wäre schon mal, dass der Strafbefehl (als solcher und mit der von der Anklage vordiktierten und richterlich bestätigten Rechtsfolge) unübersehbar im Raum steht.
https://de.wikipedia.org/wiki/Ankereffekt
@WPR_bei_WBS:
Ich bin juristischer Laie. Aber ist es nicht so, dass der Einspruch gegen den Strafbefehl bei einer Hauptverhandlung, die in ihrem Verlauf ungünstig zu enden droht, auch wieder zurückgenommen werden könnte?
@Stefan, richtig der Einspruch gegen den Strafbefehl kann zurückgenommen werden.
Entscheidend dürfte aber hier sein das der Strafbefehl jetzt den Platz der Anklageschrift einnimmt. Sprich wenn im Strafbefehl eine Summe von 999.950 € „angeklagt“ wurde, kann das Finanzamt es sich nicht noch für die kommende Hauptverhandlung anders überlegen und die 60 € Rechnung aus dem Restaurant in das Verfahren einbeziehen.
Aber der Richter ist nicht an das Strafmaß aus dem Strafbefehl gebunden: Er kann die Strafe auch erhöhen. crh
@All, die Fragen zum Strafbefehlsverfahren haben:
Die Antworten dazu habe ich in diesem Beitrag gegeben.
@Carsten R. Hoenig:
Danke für die Antwort!
> Der erforderliche Rechtsbruch muss vielmehr die Qualität eines elementaren Verstoßes gegen die Rechtspflege darstellen, bei der sich der Richter bewusst und in schwerwiegender Weise von Recht und Gesetz entfernt. Das ist hier (und in vergleichbaren Fällen einer Umgehung des Erfordernisses der richterliche Kontrolle) nicht gegeben. […]
Den Satz verstehe ich nicht ganz. Wenn wir nun den hypothetischen Fall annehmen, dass ein Richter einen solchen Antrag, mit dem schwerwiegende Grundrechtseingriffe verbunden sind, annähernd blind durchwinkt und dadurch ebendieses richterliche Kontrollerfordernis wissentlich missachtet, obwohl es ihm obliegt, das Grundrecht im Einzelfall als Richter zu schützen oder zulässigerweise einzuschränken, sehe ich hier durchaus den objektiven Tatbestand erfüllt, weil der Richter nicht berechtigt ist, den rechtsstaatlichen Kontrollanspruch des Betroffenen einzuschränken oder gar – wie im hypothetischen Fall – in Richtung Bedeutungslosigkeit auszulegen. Ursache ist also auch keine abweichende Rechtsansicht.
Wenn ich etwa an Hausdurchsuchungen bei Privatpersonen wegen des Kaufs einer angeblich *zu* günstigen Betriebssystemlizenz denke, dann denke ich nicht, dass das ein Einzelfall ist. Vielleicht gewichte ich hier die Grundrechtswirkung, die eben auch über § 339 StGB abgesichert ist, zu hoch, aber Entscheidungen, die sich nach verfassungsrechtlichen Maßstäben als objektiv willkürlich erweisen, erfüllen für mich den objektiven Tatbestand von § 339 StGB. Das heißt natürlich nicht, dass es sich auch tatsächlich um Rechtsbeugung handelt, weil die subjektive Seite eine gewichtige Rolle spielt; doch wenn man hier bereits den objektiven Tatbestand verneint: Kann ein Richter, der solche Anträge blind durchwinkt, sich dann überhaupt je strafbar machen?
Die (bloße) Unvertretbarkeit einer Entscheidung begründet in aller Regel noch keine Rechtsbeugung (st. Rspr., vgl. BGH 47 109, NStZ-RR 10, 310 mwN, Karlsruhe NStZ-RR 01, 113, SSW-Kudlich 21; vgl. hierzu BVerfG NJW 16, 3712). Vielmehr wird der Begriff der „Beugung“ (zunächst) auf zweifache Weise normativiert:
Erstens ist erforderlich ein elementarer Verstoß gegen die Rechtspflege. Rechtsbeugung begehe zudem nur der Richter usw., der sich bewusst in schwerwiegender Weise vom Gesetz entferne und sein Handeln statt an Gesetz und Recht an Maßstäben ausrichte, die im Gesetz keinen Ausdruck gefunden haben (st. Rspr., BGH 32 364, 34 149, 38 383, 47 109, 59, 147, NJW 18, 322, NStZ 10, 92, 13, 107, 651, 15, 652, 16, 353, NStZ-RR 01, 244, 10, 310, BeckRS 10, 18536, Frankfurt NJW 00, 2037, Karlsruhe NJW 04, 1469 f., NStZ-RR 01, 113, Oldenburg BeckRS 16, 05345; vgl. L-Heger 5, Kuhlen NK 60, 65, AnwK-Mückenberger 22 ff.).
Wenn Sie damit durch sind, melden Sie sich gern nochmal. 😉
crh
Der objektive Tatbestand der Rechtsbeugung wäre m.E. jedoch erfüllt, wenn der Richter entgegen § 408 II und III StPO Strafebefehle ohne jegliche eigene Prüfung zur eigenen Arbeitsersparnis grundsätzlich wie von der Staatsanwaltschaft beantragt erlassen würde. Eine Rechtsbeugung kann nämlich grundsätzlich auch in einem Verstoß gegen Verfahrensvorschriften bestehen (BGH, Beschl. v. 24. Juni 2009, Az. 1 StR 201/09). Rein praktisch wird sich ein solcher Nachweise allerdings wohl nur in atypischen Fällen führen lassen. (Der vorgenannten BGH-Entscheidung lag ein Fall zugrunde, in dem ein Betreuungsrichter zur Zeitersparnis routinemäßig nach § 70c FGG vorgeschriebene persönliche Anhörungen vor der Anordnung von freiheitsentziehenden Unterbringungsmaßnahmen unterließ. Das Ganze fiel dann auf, nachdem eine Geschäftsstellenmitarbeiterin feststellte, dass der Richter ein Anhörungsprotokoll hinsichtlich einer bereits verstorbenen Person zu den Akten genommen hatte.)
Bei einer vernünftig arbeitenden Strafsachenstelle wird ein Schlußvermerk erstellt, bevor ein Strafbefehlsantrag erstellt wird. In einem solchen Schlußvermerk wird natürlich auch auf das von der Verteidigung vorgebrachte eingegangen und auch begründet, warum sich z.B. der Sachverhalt vielleicht nicht ganz so komplex darstellt wie behauptet wurde und welche Argumente, sowohl der Steuerfahndung wie auch der Verteidigung überwiegen. Dieser Vermerk fasst das Gesamtergebnis des Ermittlungsverfahrens zusammen und ist dem Richter mit dem Strafbefehlsantrag und sämtlichen Akten vorzulegen. Ein Richter entscheidet dann damit nicht allein aufgrund des Wortlauts des Strafbefehlsantrags.
Ist es nicht so, daß die 22 Minuten ein Durchschnittswert sind? Für Steuerstrafsachen natürlich viel zu wenig, dafür für Schwarzfahren, (einfacher-)Ladendiebstahl oder einen kleineren Verkehrsunfall zu viel, oder?
@WPR_bei_WBS, meines Wissens kann man einen Einspruch gegen den Strafbefehl nur auf die Tagessatzhöhe, aber nicht die Tagessatzanzahl beschränken. Nur dann droht keine reformatio in peius. „Strafhöhe“ ist also zumindest unpräzise, weil sich bei einer Geldstrafe die Strafhöhe aus einer Multiplikation der Tagessatzhöhe mit der Anzahl der Tagessätze ergibt.
Für den angefochtenen Teil gilt § 411 Abs. 4 StPO, d.h. das Gericht kann sowohl die Anzahl der Tagessätze als auch deren Höhe „verbösern“, einzeln oder gar beides.
Über den Einspruch nur gegen die Tagessatzhöhe kann (mit Zustimmung des Angeklagten, des Verteidigers und der Staatsanwaltschaft) ohne Hauptverhandlung durch Beschluss entschieden werden, § 411 Abs. 1 S. 3. StPO; (nur) in diesem Fall ist eine Abänderung zulasten des Angeklagten unzulässig. crh
@Patenter Anwalt, natürlich sind die 22 Minuten nur ein Mittelwert über alle Verfahren. Und ja es gibt auch Verfahren die sich deutlich schneller umfänglich prüfen lassen.
Nur wird es dem einzelnen Richter bei dem sich die umfangreichen Akten ballen, kaum helfen. Im Zweifel wird sich nämlich bei ihm der Aktenstau ergeben und dann dürfte ihm schlicht die Zeit fehlen noch zu dokumentieren warum sich bei ihm die Akten stauen. Dann wird er sich nämlich von seinem Vorgesetzten anhören müssen das er in der Zeit auch 5 andere, einfachere, Akten hätte bearbeiten können.