Alimentierte Wochenfrist
Textbausteine sollen den Arbeitsaufwand gering halten. Sie entbinden aber auch ein Gericht nicht davon, etwas weiter nachzudenken als von der Wand bis zur Tapete.
Vor ziemlich genau drei Jahren ist etwas passiert, für das unser Strafgesetzbuch eine Freiheitsstrafe von bis zu 15 Jahren vorschlägt.
Seitdem ermitteln die Staatsanwaltschaft und das Landeskriminalamt den Hintergrund der Geschichte.
Das Ermittlungsergebnis …
… fassen die Ermittler in dicke Aktenordner und auf fetten Speichermedien zusammen. Auf meinem Server sieht das Ganze so aus:
Dieser Umfang ist zunächst einmal nichts Außergewöhnliches in Strafverfahren mit einer solchen Straferwartung.
Nachdem ich dem – ansonsten fleißigen und freundlichen – Staatsanwalt ein paar Mal auf die Füße getreten bin, weil er nicht aus den Puschen kam, hat er – statt mir ergänzende Akteneinsicht zu gewähren – kurzerhand am 06.07.2020 Anklage erhoben.
Das Zwischenverfahren
Die Anklageschrift hat er dann ganz oben in den Karton gelegt, in den er vorher auch die Ermittlungsakten gepackt hatte. Das Paket ging dann zum Gericht.
Am 22.07.2020 stellt der Vorsitzende Richter mir als Verteidiger die Anklage zu. Das sogenannte Zwischenverfahren beginnt.
Das rechtliche Gehör
Die Staatsanwaltschaft hat beantragt, das Hauptverfahren zu eröffnen. Der Verteidigung – also dem Angeschuldigten und seinem Verteidiger – muss das Gericht nun das rechtliche Gehör zu diesem Antrag gewähren, § 201 StPO:
Der Vorsitzende des Gerichts teilt die Anklageschrift dem Angeschuldigten mit und fordert ihn zugleich auf, innerhalb einer zu bestimmenden Frist zu erklären, ob er die Vornahme einzelner Beweiserhebungen vor der Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens beantragen oder Einwendungen gegen die Eröffnung des Hauptverfahrens vorbringen wolle.
Das Legosystem
Damit die Vorsitzenden sich nicht immer wieder dieselben Formulierungen neu ausdenken müssen, hat die Jusitzverwaltung ihnen mehr oder weniger sinnvolle Textbausteine zur Verfügung gestellt.
In diesem Fall sieht der Legostein so aus:
Fünf Tage (und Nächte)
Die Wochenfrist beginnt mit dem Datum der Zustellung und endet exakt fünf Arbeitstage später. Das ist die Zeit, die mir der Richter gewährt, in der ich 113 GB Akteninhalt analysieren sowie Erklärungen, Anträge und Einwendungen ausdenken soll. Die muss ich dann und/oder vorher noch mit meinem Mandanten erörtern. Damit er das alles richtig versteht und mich bei der Verteidigung unterstützen kann.
Käse
Auf dem Stuhl eines Vorsitzenden sitzen in aller Regel keine unerfahrenen Grünhörner. Die wissen eigentlich, dass diese Wochenfrist völliger Käse ist. Da diese Leute bei der Justiz aber nicht für’s Nachdenken bezahlt werden, kommt der Schwarzkittel auch nicht auf die Idee, dass die zu bestimmende Frist angemessen zu sein hat.
Was passiert also jetzt?
Der Angeschuldigte bekommt ob der knappen Frist einen Herzkasper, der Verteidiger muss ihn revitalisieren und dann beantragen:
- ergänzende Akteneinsicht zu gewähren
- die Frist zur Stellungnahme im Zwischenverfahren angemessen zu verlängern.
Die Geschäftsstelle des Gerichts muss diese Post in die Akte bringen, die Akte dem Richter vorlegen, der dann die entsprechenden Anweisungen und Verfügungen trifft – Akteneinsicht gewähren, Frist verlängern – und die Akte wieder zurück an die Geschäftsstelle gibt, die mir dann wieder – „auf Anordnung“ – einen freundlichen Brief schreibt.
Nicht nachhaltig
Kann man sich alles sparen und damit die knappen Ressourcen schonen, wenn man Textbausteine nicht ohne Sinn und Verstand durch die Gegend schicken würde.
Aber dafür werden die Justiziellen ja nicht monatlich im Voraus gefüttert.
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6 Kommentare
113 GB auf knapp 2,5 MB eingedampft? Was für ein starker Kompressionsalgorythmus ist das denn?
@Ich: Das hängt primär vom zu komprimierenden Inhalt ab, reine Textdokumente, am besten mit sich häufig wiederholenden Elementen können tatsächlich sehr stark komprimiert werden. Wobei die hier auftretende Kompressionsrate durchaus an eine zip-Bomb denken lässt. 😉
@Ich: Das hat vermutlich damit zu tun, dass die Daten auf dem Server liegen und somit auf dem Datenträger des Nutzers kaum Platz einnehmen. Anders ließe sich ein so großer Unterschied nicht erklären.
(Größe auf dem Datenträger ist abweichend, weil der tatsächliche Platz, den die Daten auf der Festplatte brauchen, von der Formatierung (bzw. Clustergröße) abhängen.)
@Jonas Nein, 113 GB echte Dokumente (vermutlich viele gescannte PDFs, etc.) lassen sich nicht auf 2 MB komprimieren ;-). Aber was ist eine ZIP-Bombe? Klingt interessant.
Um auch etwas zum Thema beizutragen, man muss halt mitdenken beim Einsatz von Textbausteinen, dann sind sie sinnvoll. Ich markiere mir in meinen Textbausteinen die Sachen, die ich nochmal überprüfen muss, immer… hier wäre das vermutlich auch keine schlechte Idee.
Vermutlich eher ein Netzlaufwerk mit Offlinecache.
@all: vielen Dank für Eure Hinweise, vor allem bzgl. Netzlaufwerk. Das könnte Sinn ergeben.
Bei reinen Textdateien sind für mich Kompressionsraten (ZIP) von bis zu 99% nicht ungewöhnlich (was hier aber auch über 1 GB ergäbe), aber bei PDFs (die bei Behördenakten nahezu Standard sind) wäre schon eine Kompression um 20% äußerst ungewöhnlich.
…Und sorry für das unbeabsichtigte hijacking.
@Daniel223: https://de.wikipedia.org/wiki/Archivbombe